Titelthema

Ein Blick in die Zukunft

Es ist früh am Morgen, die Kita im "ZENTRUM" ist bereits seit einer Stunde ge­öffnet. Der überdachte Vorplatz wird eben von zwei älteren Menschen, einem Mann und einer Frau, mit langsamen und gleichmäßigen Besenstrichen gefegt. Vier Kinder, zwischen zwei und sechs Jahre alt, sind mit dabei, man­che mit Besen und Schaufel zugange. Ein Mädchen sitzt auf einem der bunten Holz­stühle, die unter dem Vordach aufgereiht ste­hen, jeder Stuhl anders in Form und Farbe. Es starrt auf etwas in seiner Hand und ruft: "Lo­renzo, sie krabbelt!" Der weißhaarige Mann schaut herüber: "Hab ich ja gesagt, Meliha: Sie spürt deine Wärme und erwacht! Vielleicht will sie wegkrabbeln, zu ihren Freunden?" Meliha nickt.

Ute, die sich vergnügt als "Rentier" vor­stellt, bringt uns ins Haus. Sie gehört zu den insgesamt sieben Rentnerinnen und Rentnern, die regelmä­ßig im ZENTRUM mitarbeiten, weil sie Zeit ha­ben und etwas Sinnvolles tun wollen, solange sie fit sind. Und auch, weil sie das Geld dafür zur Aufbesserung ihrer Rente gut gebrauchen können. "Gut, dass meine Bewerbung vom Kita-Rat berücksichtigt wurde!", sagt Ute. Zu den Auswahlkriterien gehört, dass die Bewerber unterschiedliche Erfahrungen, Kompe­tenzen und Lebensgeschichten mitbringen - so wie alle Teams im ZENTRUM. Das sei über­haupt ein Prinzip hier, es werde "DI-KU-GE-Schleife" genannt, gemeint sei die Verbin­dung von Disziplinen, Kulturen, Generatio­nen.

Mehrperspektivität ist das Ge­heimnis

Ute ist überzeugt davon: "Mehrperspektivität ist das Geheimnis! Wir alle können so viel mehr lernen, wenn wir es hinkriegen, in den Schuhen von Menschen durch die Welt zu ge­hen, die ganz anderes erleben als wir selbst! Es heißt auch, dass wir Platz bekommen für unsere eigene Perspektive, sie wird gehört und es wird damit gearbeitet. Ich zum Beispiel bin jetzt 78 Jahre alt, ich kann etwas darüber sa­gen, wie es ist, auf so ein langes Leben zu­rückzublicken. Von Beruf war ich Bürokauf­frau, davon bringe ich etwas ein bei der Ver­waltung des ZENTRUMS - und lerne gleich­zeitig immer weiter, zum Beispiel, was den Umgang mit neuen Medien angeht, sogar von den Kindern!" Und die Bezeichnung "Ren­tier"? Ach ja, die habe etwas mit einer Ver­wechslung zu tun, die schon Jahre zurück­liege: Als Kinder damals erfuhren, dass Rent­nerinnen kommen werden, um hier mitzuar­beiten, fragten sie, wann die Rentiere denn kämen ...

Im Haus werden wir empfangen vom "Be­suchsdienst": Berit, Mitte fünfzig und derzeit Koordinatorin im ZENTRUM, ihr Kollege Raul, Anfang dreißig, Kindheitswissenschaftler, mit Toni (vier Jahre) und Sibel (fünf Jahre). Sibel hält Raul an der Hand. Raul ist blind. "Manches kann ich für ihn sehen", sagt Sibel. Malee kommt hinzu, sie ist die Mutter von Toni: "Wir haben die Regel, dass bei den Diensten möglichst Eltern dabei sind - wegen ihrer PER-SPEK-TIVE!" Die anderen sprechen belustigt im Chor mit, als sie das Wort sagt.

Toni und Sibel zeigen den Eingangsbereich, von hier aus geht es zu den Gruppenbereichen und zur Küche. Die Küche hat eine Theke zur Halle hin, davor die Cafeteria. Hier kann man sich jetzt Getränke und Frühstück holen, ei­nige Kinder und Erwachsene sitzen an Ti­schen, frühstücken und unterhalten sich. Ma­lee erläutert: "Manche sind Eltern, manche ar­beiten hier, das ist auf den ersten Blick gar nicht zu erkennen! Auch das gefällt mir hier, dass wir alle wichtig sind!"

Alle sind da und sind verschie­den

An der Decke hängt ein Mobile mit Fotos, Namen und geschnitzten Figürchen zu jedem Kind und jedem Erwachsenen im Haus - insgesamt 140! Es sind 100 Kinder und 40 Erwach­sene. Eine beleuchtete Drahtinstallation blinkt: "Alle sind gleich, jede und jeder ist be­sonders." Toni erklärt: "Alle sind da, haben hier ihren Platz. Sehen aber nicht gleich aus! Haare sind verschieden, Augen, manche sind dick, manche dünn, manche schauen lustig, manche nicht." Sein Finger zeigt auf einzelne Porträts über uns.

Die Figürchen aus Holz wa­ren eine Idee der Kinder, nachdem das "Ren­tier" Henry ihnen seine Holzfiguren gezeigt hatte. Zusammen mit ihm haben sie eine Schnitzwerkstatt beantragt und eingerichtet. Wer neu ist im ZENTRUM, bekommt einen Termin in der Werkstatt, und da wird dann seine Figur geschnitzt. "Oder ihre", sagt Si­bel, "wenn sie Frauen oder Mädchen sind!"

Berit lacht: "Ich bin immer wieder erstaunt, wie aufmerksam die Kinder sind! Seine und ihre Figur, da muss man schon unterscheiden, das ist ja richtig. Die Kinder lernen es, weil auch wir aufmerksam sind. Wir haben vor zwanzig Jahren damit begonnen, aufmerksam zu sein für Unterschiede und Abwertungen, auch in der Sprache. Wir bemühen uns, eine inklusive, vorurteilsbewusste Sprache zu verwenden, denn Sprache formt das Denken, über sich selbst und über andere Menschen."

Blick zurück: Exklusion be­kämpfen, Inklusion erkämpfen

Wir machen es uns bequem auf einem Podest mit Kissen und unterschiedlichen Sitzmög­lichkeiten, hier gibt es Tee und selbstgeba­ckene Kekse. Berit holt aus: "Vor zwanzig Jahren - das war die Zeit, als wir 'Inklusion' in unser Leitbild aufgenommen haben, meine Güte, waren das damals merkwürdige Diskussionen! Die einen meinten, es ginge jetzt nur darum, die Kita für 'Kinder mit Behinderungen' zu öffnen, die anderen wollten dafür erst alles umgebaut haben, wieder andere haben das politisch bekämpft, als Spinnerei von 'denen da oben', oder als Sparpaket. Wir haben da­mals entschieden, dass es für uns eine Vision ist, die wir ernsthaft verfolgen: Dafür zu sor­gen, dass unsere Türen auf sind für alle, die hier leben. Und dass sie wirklich willkommen sind, mit ihrem Mitgebrachten, ihren Erfah­rungen, Lernzugängen, Weltsichten. Das meint ja Inklusion, nicht wahr? Dass wir in der Lerngemeinschaft, die wir hier sein wol­len, jede Form von Ausschluss bekämpfen, die Menschen benachteiligt und fernhält von gesellschaftlichen Ressourcen. Exklusion be­kämpfen, Inklusion erkämpfen, dafür müssen wir etwas tun, das war uns schon damals klar. Es gibt von Alice Walker den guten Satz: Sei dir der Gegenwart bewusst, die du gestaltest, es sollte die Zukunft sein, die du willst. Den haben wir damals als Motto für uns aufge­nommen."

Veränderte Strukturen, verän­dertes Bewusstsein

Raul ergänzt: "Ich hatte sehr früh den Berufs­wunsch Erzieher, aber als ich zur Schule ging, erschien das aussichtslos. 2009 wurde zwar die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen unterzeichnet, aber es dauerte noch eine ganze Weile, bis endlich die Förderschulen abgeschafft wurden und es mehr Investitionen in ein inklusives Bildungssystem gab. Da gab's ein Umdenken und endlich wurde es selbstverständlicher, dass auch Blinde in Kitas arbeiten können! Entscheidend war der Bildungs-Schock im Jahr 2018, als die Ergebnisse der UN-Kommission zu "Wohlstand und Wohlergehen" ergaben, dass die körperliche und seelische Gesundheit von Kindern im reichen Deutschland in einem erschreckenden Ausmaß beeinträchtigt war, mit fatalen Folgen für ihre Bildungsprozesse, verschärft noch durch die sozialen Unter­schiede und die Bildungsbenachteiligung. Dann der Regierungswechsel, endlich die Verdoppelung der Investitionen in der frühen Bildung, wie schon Jahre zuvor von der UNESCO angemahnt, endlich mehr Personal und eine Veränderung der Strukturen, auch vor dem Hintergrund des demografischen Wandels. Natürlich sind mehr Ressourcen nö­tig, wir haben hier vieles in Brailleschrift, und ich habe ein spezielles Lesegerät, auf das mir Mitteilungen in Braille gepusht werden. Das brauche ich, um hier tätig sein zu können. Ich stelle fest, dass es eine größere Bereitschaft gibt, Barrieren zu erkennen, die Menschen wie mich bei der Ausübung dessen behindern, was für andere 'normal' ist. Eine gerechte Gesellschaft ist Deutschland noch immer nicht, aber es gibt mehr Gerechtigkeit in den Bildungseinrichtungen, finde ich."

Malee bestätigt: "Ja, es hat sich viel verän­dert! Auch in den Schulen lernen jetzt alle gemeinsam, in den Gemeinschaftsschulen. Als ich ein Kind war, wurde nach der vierten Klasse sortiert. Immer auch zum Nachteil von Kindern wie mir: Meine Mutter ist aus Thai­land nach Deutschland eingewandert, es gab viele Vorurteile gegen uns, und wenn andere in der Klasse 'Schlitzauge' zu mir sagten, dann haben sich die Lehrer und Lehrerinnen nicht darum gekümmert. Hier im ZENTRUM sprechen wir solche Sachen immer an, das finde ich gut, man ist mit solchen Erfahrungen nicht alleine."

"Das geschieht hier in Reflexionsrunden", ergänzt Berit. "Wir haben erkannt, dass es nö­tig ist, verlässliche Strukturen für den Erfah­rungsaustausch zu schaffen. Also machen wir regelmäßig Reflexionsrunden, zu denen man entweder selbst ein Thema meldet oder eines empfiehlt, weil man mit jemandem ge­sprochen hat und mehr über seine oder ihre Erfahrungen lernen möchte. Raul und Malee ha­ben da schon von ihren Erfahrungen mit Blindsein oder Diskriminierung gesprochen, Toni und Sibel von ihren Erfahrungen als Kind beziehungsweise als Mädchen. Das war für uns andere sehr wichtig. Um sie zu verste­hen und auch um zu lernen, wie sich gesell­schaftliche Verhältnisse in den Biografien der Einzelnen zeigen! Von da aus können wir be­wusster Verantwortung für ein gutes Mitei­nander übernehmen."

Kita als kompetente und soli­darische Lerngemeinschaft

Toni und Sibel werden ungeduldig: "Jetzt zei­gen wir euch unsere 'Info-Sammelstelle'!" Sie führen uns zu einer anderen Ecke der Eingangshalle, die ausge­stattet ist mit Computerarbeitsplätzen, einem Podest mit Laptops und Tablets, wo einige Erwachsene und Kinder sich betätigen. Hier gibt es mehr Informationen zu den einzelnen Menschen im ZENTRUM. Ein Auflegen der Hand auf den Bildschirm genügt, um mehr über die betreffende Person zu erfahren: Bil­der, Werke, Texte, Fotos. Sibel demonstriert es und zeigt uns ihre Seite: "Das können auch Babys machen, oder Leute, die nicht lesen und schreiben können!", sagt sie. Hier findet man Informationen zu den Reflexionsrunden und zu Projekten. Sibel klickt sich versiert durch die Symbole: "Schaut mal hier, ein Projekt zu Hautfarben, zu Tod, zu Angst, zu Liebe ..." Sibel kann zu vielen Projekten etwas sagen, immer ist der Ausgangspunkt eine Frage oder Beobachtung der Kinder oder Erwachsenen im ZENTRUM, der man gemeinsam nach­geht, die Erkenntnisse und neue Erfahrungen eröffnet ...

Am Computer nebenan sitzt Thomas, eben­falls "Rentier". Er war früher Kita-Leiter und Redakteur einer Kita-Zeitschrift, jetzt unter­stützt er die Öffentlichkeitsarbeit im ZENTRUM und pflegt die Info-Sammelstelle. "Im Grunde", sagt er augenzwinkernd, "ist es das Vorgehen nach dem guten alten Situationsan­satz! Der ist ja nun auch schon über sechzig, man­che der Jüngeren kennen ihn nicht, aber seine Ziele Autonomie, Kompetenz und Solidarität, die werden hier gelebt. Merken Sie das?"

Petra Wagner
Dipl.-Päd., Direktorin des Instituts für den Situationsansatz (ISTA) in der Internationalen Akademie INA gGmbH und Leiterin der Fachstelle KINDERWELTEN für vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung, Berlin.

Literatur
- OECD - Organisation für wirtschaftliche Zusammen­arbeit und Entwicklung: Die Politik der frühkindlichen Betreuung, Bildung und Erziehung in der Bundesre­publik Deutschland; Länderbericht der OECD; 26.11.2004
- Sulzer, Annika/Wagner, Petra (2011): Inklusion in der Frühpädagogik: Qualifikationsanforderungen an die Fachkräfte; WiFF-Expertise Nr. 15; Mün­chen; www.weiterbildungsinitiative.de
- Wagner, Petra (Hrsg.) (2013): Handbuch Inklusion. Grundlagen vorurteilsbewusster Bildung und Erzie­hung; Freiburg: Herder Verlag

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